Das Konzept des Erst- bzw. Hauptpartners

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Mir hat am Buch „Lob der offenen Beziehung“ von Oliver Schott gut gefallen, dass es nachvollziebar sowohl die Schwächen unbewusst oder halbherzig eingegangener, monogamer Beziehungen aufzeigt als auch die Konsequenzen, mit denen sich Paare nach der Öffnung ihrer Beziehung auseinandersetzen müssen.

Eine für mich sehr wichtige Eigenschaften einer echten Liebesbeziehung ist, dass keine Exklusivität eingefordert werden kann. Noch viel zu oft wird Exklusivität unausgesprochen vorausgesetzt: Die sexuelle in monogamen und die emotionale in offenen Beziehungen. In offenen Beziehungen wird die emotionale Exklusivität dem Erstpartner gerade deshalb versprochen, um diese Beziehung von den Nebenbeziehungen als „etwas Besonderes“ abzuheben. Dadurch soll ein unterschiedlicher Status zwischen den parallelen Beziehungen festgeschrieben werden, der zu einer unterschiedlichen Form von Treue führt und der die offene von der polyamoren Beziehung abgrenzen soll.  Übrigens kann die „emotionale Exklusivität“ bzw. „emotionale Treue“ deutlich schwieriger als die sexuelle Exklusivität definiert und ihre Einhaltung nachvollzogen werden. Wie zeigt sich denn die emotionale Exklusivität zwischen den Erstpartnern, wenn einer von ihnen gerade Zeit mit einem Sexpartner verbringt?

Oliver Schott spricht sich – vielleicht auch wegen der vorgenannten, herausfordernden Definition zur „emotionalen Exklusivität“ – gegen jede Form von Exklusivität und Statusdenken aus. So schreibt er: „Exklusivität dient hauptsächlich dazu, der Beziehung einen formalen Status zu verschaffen, der eine Illusion von Sicherheit und Kontrolle sowie sehr reale, aber wenig hilfreiche Machtverhältnisse und Einschränkungen der Freiheit aller Beteiligten erzeugt. Die Behauptung, dass ‚wahre‘ Liebe zwingend den Wunsch nach emotionaler Exklusivität mit sich bringe, bedeutet, dass wahre Liebe zwingend mit Statusdenken einhergeht. Wenn das so ist, plädiere ich entschieden für unwahre Liebe. Denn nur, wenn man das Statusdenken überwunden hat, kann es einem wirklich um den anderen Menschen und die Beziehung, die einem mit ihm verbindet, gehen.“ [Quelle: Oliver Schott – Lob der offenen Beziehung, Bertz-Fischer Verlag, 9. Auflage 2020, Seite 93].

Eine Konsequenz, die ensteht, wenn eine Beziehung ihren Status verliert, ist ihre gleichzeitige Abnahme von Struktur. Es sind dann „nur noch“ praktische Fragen, welche den Beziehungen eine Art Struktur verleihen, wie Oliver Schott auf Seite 90 seines Buches hervorhebt. Alles weitere wird der individuellen „Freiheit“ und Entfaltung der Partner hintangestellt. Bei dieser Priorisierung der persönlichen Bedürfnisse oder Impulse, die jegliches Konzept ablehnen, erscheinen mir gemeinsame Planungen als Paar fast unmöglich zu werden.

Mir ist beim Lesen des Buches der Tenor aufgefallen, dass Oliver Schott Exklusivität stark mit Unfreiheit bis Zwang in Verbindung bringt (siehe beispielsweise den Buchauszug oben). Die Ergebnisse meiner langen und intensiven Recherchen widersprechen diesem Tenor allerdings. Denn moderne Beziehungen von monogamen bzw  monogamischem Charakter folgen einer freiwilligen Selbstverpflichtung, die meiner Ansicht nach ein ganz zentrales Element von Beziehungen ist und auch überhaupt keinem Zwang folgt. Dieses zentrale Element von Beziehungen wird nach meinem Empfinden von Oliver Schott zu wenig beleuchtet. Dass erzwungene Exklusivität keine Basis einer wahrhaftigen Beziehung – ob offen oder ‚geschlossen‘ – sein kann, wie es Oliver Schott schreibt, ist unstrittig. Doch kann ein Paar großes Glück empfinden, wenn es sich gegenseitig und aus vollem Herzen Exklusivität schenkt. Die Beziehung(-sform) als gegenseitiges Geschenk aufzufassen, halte ich für eine sehr stabile Basis. Und geschenkte Exklusivität hat überhaupt nichts mit Statusdenken oder „Machtverhältnissen“ gemeinsam, sondern kann stattdessen die Beziehung vertiefen.

Interessanterweise leben die Mosuo während ihrer polygamen Lebensphase recht genau nach den Vorstellungen von Oliver Schott, da sie nicht zwischen „Erst- bzw. Hauptpartner“ und ggf. weiteren Sexpartnern differenzieren. Jedoch halten sie sich an eine andere Struktur: Entweder sie führen mit einem Partner eine monogame Beziehung oder sie haben gleichzeitig mehrere Partner ohne Beziehung. Beides wird grundsätzlich nicht vermischt. Durch ihre Struktur des „Sex entweder in monogamer oder keiner Beziehung“ wird ihre Sexualität um viele komplexe Dynamiken verringert. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Energiebilanz bei dieser klaren „Entweder Oder“- Struktur höher als bei einer polygamen Beziehungsform ist, die einen Erstpartner installiert hat. Denn die Auseinandersetzungen mit dem Erstpartner insbesondere bezüglich der Regeln, des Zeitmanagements sowie der Emotionen und der Gefühle von Eifersucht dürften grundsätzlich mehr Energie kosten als durch die Nebenbeziehungen gewonnen wird.

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