Was bleibt bei wenig Exklusivität?

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Bei offenen Beziehungen, die länger andauern, kann eine sehr dynamische Veränderung der vereinbarten Regeln beobachtet werden. Regeln, die zu Beginn der offenen Beziehung noch eher eng gefasst waren, damit für die Erstbeziehung eine gewisse Exklusivität übrig bleibt, werden zunehmend gelockert und lösen sich auf. Oft auch deshalb, weil sich ein Partner nicht an die vereinbarten Regeln während eines Treffens mit einem Sexpartner gehalten hat – also untreu geworden ist – und diese Regel deshalb abgeschafft bzw. geändert haben möchte. Schließlich gibt es kaum noch Regeln, welche die Begegnungen mit Sexpartnern einschränken. Bei länger andauernden offenen Beziehungen können schließlich weniger Regeln als bei polyamoren Beziehungen bestehen.

Umso weniger Regeln es gibt, desto mehr scheint die Exklusivität zwischen den Erstpartnern abzunehmen. Mir hat sich die Frage gestellt, worin der Unterschied zwischen einer offenen Beziehung mit so gut wie keinen Regeln bzw. Privilegien und einer Freundschaft mit Vorzügen – auch Freundschaft Plus oder Mingle Dasein genannt – besteht. Denn von außen betrachtet scheint es kaum Unterschiede zu geben. Abgesehen vom Verhalten, das dem Erstpartner gegenüber tendenziell „verbindlicher“ als einem Sexpartner gegenüber sein kann. Schließlich könnte diese „Verbindlichkeit“ zum Erstpartner auch nur deshalb bestehen, weil gemeinsame “Verbindlichkeiten”  – wie gemeinsame Wohnung, Kinder usw. – eingegangen wurden. Was bleibt also von einer Beziehung, in der es so gut wie keine Exklusivität mit dem Erstpartner gibt? Was bleibt auch für Außenstehende “begreifbar”, das nicht auf einer transzendentalen Ebene (z.B. “wenn ich an die Zukunft denke, dann sehe ich immer meinen Erstpartner an meiner Seite” oder “ich weiß, dass ich meinen Erstpartner nicht verlasse und er mich nicht verlässt”) projiziert wird, sondern von anderen auch nachvollzogen werden kann? Wie sieht die Energie aus, die in der Beziehung bleibt und die aus der Beziehung abgezogen wird? Was genau findet der eine Erstpartner am anderen anziehend? Oder ist der Erstpartner mit der Zeit vielleicht zu einem engen Freund mit Vorzügen (“friend with benefits”, Freundschaft Plus) geworden? Auch offene Beziehungen können romantisch verklärt werden.

Meiner Ansicht nach sollte jeder nachvollziehbar erklären können, worin konkret die Exklusivität der Beziehung mit dem Partner bzw. Erstpartner besteht und was die Beziehung im Innersten zusammenhält. Und wenn es im Falle einer offenen Beziehung nur wenig bis keine Exklusivität gibt, warum am Status “Erstpartner” festgehalten wird. Selbst Befürworter offener Beziehungen sehen das Festhalten an einem Beziehungsstatus wie “Erstbeziehung” kritisch (vgl. z.B. Oliver Schott – Lob der offenen Beziehung). Wer die offene Beziehung mit dem Erstpartner transzendiert (“ich weiß einfach, dass … / ich bin mir sicher, dass …“), der verlässt die rational intellektuelle Ebene und mag Gründe für sich selbst gefunden haben, die anderen gegenüber allerdings nicht vermittelbar sein können. “Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, empfahl schon Ludwig Wittgenstein.

In meinem Buch lasse ich die Fragen zum Umfang von Exklusivität in einer Beziehung bewusst unbeantwortet, nicht nur, weil er höchst individuell ausfällt, sondern auch, weil es fließende Übergänge zwischen den Beziehungsformen gibt. Aus meiner Sicht kann nur eine ehrliche Selbstreflexion eine Antwort geben, die bei jedem Paar, das in einer offenen Beziehung lebt, individuell ausfallen wird. Die Selbstreflexion könnte beispielsweise ergeben, dass einzig der Wunsch, miteinander alt zu werden, als eine Art “Exklusivität” übrig bleibt, wie es Max Zimt im nachfolgenden Ausschnitt Podcast äußert.

Ausschnitt aus: “Max & Anna Zimt – Geschichten einer offenen Beziehung”, Episode “Der Zweifler (ab Minute 32:44)”

Allerdings zeichnete sich bei meinen Recherchen die Tendenz ab, dass Paare ein echtes “Commitment” genau dann erleben, wenn sich die Partner gegenseitig freiwillig und aus vollem Herzen eine Exklusivität schenken, die nicht mit anderen geteilt wird. Die meisten Paare dürften sich in ihrer Beziehung umso mehr aufgehoben fühlen, desto mehr sie diese Exklusivität sich selbst und anderen gegenüber nachvollziehbar vor Augen führen können.

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