Mich hat die Lesensweise der Musuo, von der ich während der Recherchen zu meinem Buch erfuhr, sehr beschäftigt. Die Musou sind ein „Naturvolk“, das im südwesten Chinas lebt und in dem die Frauen das Oberhaupt der Familie sind. In diesem Matriarchat wird die sogenannte Besuchsehe, die auch Wanderehe genannt wird, praktiziert. Bei dieser Beziehungsform entscheidet die Frau frei und ohne Zwänge, welchen Mann sie empfängt. Ein Mann hängt vor dem Zimmer einer Frau, die er besucht, seinen Hut als Zeichen dafür auf, dass sie nicht gestört werden wollen.
Die Besuchsehe der Mosuo kommt unserer Auffassung von der „Freien Liebe“ sehr nahe, weil die kulturellen Einflüsse so gut wie keinen Einfluss auf die Beziehungsform haben. Die Frauen können selbstbestimmt und ohne irgendeine moralische oder gesellschaftliche Einschränkung entscheiden, welchen Mann sie empfangen. Gezeugte Kinder verbleiben bei der Familie der Mutter und werden von ihr großgezogen. Für den Vater entstehen keine Verpflichtungen.
Doch interessanterweise werden die sexuellen Freiheiten der Besuchsehe nicht dauerhaft ausgekostet. Verliebt sich ein Paar, so bleiben sich beide Partner sexuell treu, dulden in aller Regel keine weiteren sexuellen Kontakte zu anderen und entwickeln Eifersucht. Mit Verweis auf eine Forschungsarbeit von Tammy Blumenfield „The Na of Southwest China – Debunking the Myths“ von 2009 lesen wir unter Wikipedia [6], dass nur wenige Frauen gleichzeitig mehrere Geliebte haben und die meisten Beziehung jahrelang, mitunter sogar ein lebenlang halten würden.
Tami-Blumenfield-myths-of-the-NaIn diesem verlinkten Video spricht Tammy Blumenfield ab Minute 6:19 über die Besuchsehe („Walking Marriage“). Sie berichtet davon, dass die große Mehrheit der Mosuo die Besuchsehe monogam führe. Sie werde von ihnen als bessere Basis für Liebe verglichen mit der westlich geprägte Ehe angesehen, weil die Partner der Liebe und nicht anderer Gründe wegen zusammenbleiben würden.
Im Übrigen würden sich die getrennten Haushalte entspannend auf die Partner auswirken, weil es dadurch weniger Konflikte gebe. Beide Partner verbringen den Tag bei ihrer Familie und treffen sich erst „nach Sonnenuntergang“ im Zimmer der Frau (deshalb die Bezeichnung „Besuchsehe“).
Auch Ricardo Coler, der einen längeren Zeitraum bei den Mosuo verbracht hat, geht in seinem Buch „Das Paradies ist weiblich“ ausführlicher auf die Besuchsehe ein und bestätigt die zuvor geschilderten Verhaltensweisen: “ ‚Wenn er mit einer anderen geht, dann ist Schluss. […] ohne Streit, aber es ist Schluss’. Erstaunt entgegne ich [Ricardo Coler], das widerspräche doch der sexuellen Freizügigkeit, die sie praktizieren. Sie wirft mir [Ricardo Coler] einen einschüchternden Blick zu, als sei ich schwer von Begriff. ‘Das ist etwas anderes. Gelegenheitsbeziehungen, das heißt, wenn die Frau nicht immer denselben Mann empfängt, muss man nicht beenden. Wenn man aber davon ausgehen kann, dass die Frau nur dem einen Mann die Tür öffnet und er nur sie besucht, dann werden Beziehungen zu anderen Frauen nicht geduldet’. “ [Quelle: Ricardo Coler – Das Paradies ist weiblich; Aufbau Verlag, 1. Auflage 2011, Seite 143]
Im nachfolgenden Video erzählt eine Mosuo- Frau ab Minute 3:15 vom verbreiteten Missverständnis, dass die Besuchsehe („Walking Marriage“) vordergründig eine polygame Beziehung sei. Ihr zufolge gleiche sie eher einer „Ehe ohne Trauschein“, die – nach einer möglichen polygamen Phase – grundsätzlich monogam geführt werde.
Interessant ist auch, dass die Mosuo keine offenen oder polyamoren Beziehungen zu führen scheinen, obwohl ihnen diese Möglichkeit offensteht. In ihrer polygamen Phase findet sich ein Paar ähnlich wie Mingles zusammen und hat Sex miteinander, ohne eine verbindliche Beziehung oder Verpflichtung einzugehen. In ihrer monogamen Phase geht ein Paar eine dyadische Beziehung ein, obwohl dies von niemandem – weder gesellschaflich, familiär noch religiös – erwartet wird. Die Lebensweise der Musou hat bei mir die Frage aufgeworfen, wie „frei“ wir in unserer Kultur unsere Sexualität tatsächlich leben. Beispielsweise meint Eva Illouz, dass wir Sex heute deutlich mehr als früher konsumieren würden und dass diese Entwicklung viele Parallelen mit der Entstehung unserer heutigen Konsumgesellschaft aufweise.
In meinem Buch gehe ich dieser Frage, inwieweit wir Sex konsumieren und es sich dabei um ein wirklich „freies“ Verhalten handelt, ausführlicher nach.
Schreibe einen Kommentar