Bei der offenen Beziehungsform wird die Treue zwischen den Erstpartnern von der körperlichen auf eine emotionale Ebene übertragen und häufig als „emotionale Treue“ bezeichnet. Die Ergebnisse meiner Recherchen legen nahe, dass sich diese „emotionale Treue“ deutlich schwieriger definieren lässt als die „körperliche Treue“, die bei monogam geprägten Beziehungsformen vereinbart wird.
Im Ergebnis der Recherchen zu meinen Buch musste ich festellen, dass es keine einheitliche Defnition von „emotionaler Treue“ gibt und diese sehr unkonkret bleibt. Auf liebesleben.net können wir beispielsweise lesen: „Emotionale Treue bedeutet, dass man seine tiefen Gefühle und Gedanken nur mit dem Partner teilt. Man vermeidet es, emotionale Bindungen zu anderen Personen aufzubauen, die die Beziehung gefährden könnten.“ Doch was genau sind denn tiefe Gefühle und Gedanken? Und wann genau ist denn eine emotionale Bindung zu anderen Personen aufgebaut bzw. nicht aufgebaut worden?
In diesem Zusammenhang fand ich eine Definition von Treue von Aino Simon interessant, welche Sie in einem Interview mit Veit Lindau (ab Minute 31:25) geäußert hat.
Die von Aino geäußerte Definition von „Treue 2,0“ empfinde ich im Kontext offener Beziehungen nach wie vor als komplex, weil sie noch immer sehr viel Interpretationsspielraum lässt und Treue daher auch nicht eindeutig und klar definieren kann. Ganz abgesehen davon, dass sich Sex nicht dauerhaft von der emotionalen Ebene trennen lässt, weshalb sich Erstpartner früher oder später nicht nur körperlich, sondern auch emotional untreu werden müssten.
Es bleibt der Eindruck bestehen, dass die „emotionale Treue“ ein vages und sehr individuelles Konstrukt ist. Sie soll erklären können, dass sich Erstpartner trotz sexueller Intimität mit anderen und sexueller Untreue (so nennt es auch Aino) auf einer übertragenen, geistigen Ebene treu bleiben können. Jedem Paar, welches eine offene Beziehung führen möchte, bleibt es überlassen, für sich selbst eine Definition von dieser geistig übertragenen Treue zu finden. Je enger diese Definition jedoch ausfällt, desto schneller können sich Erstpartner auch untreu werden.
Der nachfolgende Ausschnitt aus einem Podcast von desired wirft u.a die Frage auf, wie „emotional treu“ wir unserem Erstpartner noch sind, wenn wir unsere Zeit gerade viel lieber mit einem Sexpartner verbringen würden.
Angesichts der Komplexität der Definition von Treue im Kontext offener Beziehungen stelle ich mir die Frage, ob es nicht deutlich ehrlicher wäre, wenn sich offen lebende Paare gegenseitige Untreue auf allen möglichen Ebenen – der sexuellen, emotionalen, spirituellen usw. – zugestehen würden. Denn ein Paar, das eine offene Beziehung führt, könnte sich auch zueinander bekennen, obwohl es sich gegenseitig untreu ist. Das würde manche Diskussion über offene Beziehungen insbesondere hinsichtlich der Attribute von Treue – wie beispielsweise Loyalität – erleichtern. Allerdings würde damit auch die Frage in den Vordergrund rücken, was die Erstpartner trotz geminderter Exklusivität konkret miteinander verbindet. Als Antwort darauf könnten beide Erstpartner beispielsweise feststellen, dass es überwiegend rationale Gründe sind, welche ihre Beziehung zusammenhält – wie beispielsweise gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Werte, gemeinsame Verpflichtungen und Vertrautheit. Gerade diese rationalen Gründe könnten meinem Empfinden nach deutlich ehrlicher als ein komplexes Konstrukt namens „emotionale Treue“ kommuniziert werden, um die Bedeutung der Erstbeziehung hervorzuheben.
Aus vorgenannten Gründen scheint es naheliegend zu sein, dass Paare in offenen Beziehungen auch offen für Untreue sein sollten. Diese Offenheit dürfte sich auch im Einklang mit der Auffassung von Oliver Schott befinden, der in seinem Buch „Lob der offenen Beziehung“ hervorhebt, dass es in offenen Beziehungen keine Exklusivität geben sollte. Mithin dürfe ihm zufolge auch keinem Partner Treue exklusiv eingeräumt werden.
Da sich für die „emotionale Treue“ offenbar keine universell verständliche Definition finden lässt und diese – zumindest nach der Ansicht von Oliver Schott – auch nicht eingefordert werde dürfe, wäre vielleicht die „rationale Treue“ eine Definition, welche die Verbundenheit der Erstpartner in – nicht nur – offenen Beziehungen am deutlichsten beschreiben könnte. Vielleicht könnte damit anderen gegenüber am verständlichsten dargelegt werden, warum sich die Erstpartner trotz der – nicht nur – um Sex geminderter Exklusivität aufeinander festlegen.
Wer es von uns eher „einfacher“ und klarer mag – so wie es Veit Lindau im zuvor verlinkten Video mit Aino Simon ausführt – wird sich tendenziell in einer monogam geprägten Beziehung zuhause fühlen. Wer von uns hingegen weitere sexuelle Affären eingehen möchte, begibt sich auf ein „nicht einfaches“ bzw. komplexes Feld. Diejenigen unter uns, die Polygamie bevorzugen, könnten es wenigstens in der Frage der Treue einfacher halten – indem sie sich und ihren weiteren Partnern zeitweise Untreue zugestehen.
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