Als ich mich näher mit der offenen Beziehungsform beschäftigte, sind mir die vielen Regeln aufgefallen, die Paare tendenziell vor der Öffnung ihrer Beziehung vereinbaren. Genauso ist mir aufgefallen, dass im Laufe einer offenen Beziehung immer mehr Regeln nachverhandelt oder sogar abgeschafft werden.
Diese Tendenz, dass Regeln häufig nachverhandelt oder abgeschafft werden, spiegelt die Dynamiken, die bei der Öffnung von Beziehungen einsetzen. Diese Dynamiken treten insbesondere deshalb auf, weil Sexualität mit Emotionen einhergeht und diese als ein wesentlicher Kern von Liebesbeziehungen auf verschiedene Partner verteilt wird. Aus meiner Sicht sollte sich jedes Paar vor Augen führen, dass die Regeln, die insbesondere in der Anfangsphase der Öffnung Sicherheit und Komfort geben sollen, sich mit zunehmender Dauer stark verändern werden.
Paare, die ihre Beziehung öffnen wollen, sollten die Möglichkeit mit betrachten, ohne (viele) Regeln auszukommen. Viele Regeln sollen dem Erstpaar im dynamischen Feld offener Beziehungen Sicherheit geben, bewirken aber letztendlich das Gegenteil . Denn je mehr Regeln aufgestellt werden, desto leichter kann auch eine gebrochen werden. Und sie werden aufgrund der Kraft, die Sex entfalten kann, umso häufiger gebrochen, desto restriktiver sie vereinbart sind. Gebrochene Regeln deuten schließlich auf Untreue hin. Zwar gibt es auch in anderen Beziehungsformen keine hundertprozentige Sicherheit, dass Regeln eingehalten werden. Doch im Vergleich zur offenen Beziehung sind sie deutlich statischer und müssen kaum nachverhandelt werden. Im Übrigen führt gerade das Nachverhandeln von Regeln in offenen Beziehungen überwiegend dazu, diese sukzessive zu lockern oder abzuschaffen, also die Selbstverpflichtungen und die Exklusivität der Partner zu verringern. Als Regel bleibt meistens nur noch das Veto-Recht übrig, welches allerdings auch sehr schnell seine angedachte Schutzfunktion für die Erstbeziehung verlieren kann.
Daher hat sich mir die Frage gestellt, ob die Öffnung einer Beziehung nicht gleich „voll und ganz“ erfolgen sollte, sodass sich beide Partner von Anfang an die als so wichtig betrachtete Freiheit schenken, mit anderen erfüllende sexuelle Begegnungen und Liebesgefühle erleben zu „dürfen“. Dazu gehört meiner Ansicht nach auch, dass sich die Erstpartner die Erlebnisse mit Sexpartnern gegenseitig erzählen. Denn wesentliches Merkmal einer Beziehung ist ja gerade, dass wir unserem (Erst-) Partner auch an unserer außerhalb der Beziehung verbrachten Zeit teilhaben lassen.
Wenn sich beide Erstpartner Freiheiten einräumen wollen, dann sollte die Freiheit auch die Offenheit beinhalten, alle Dynamiken anzunehmen, die durch die Öffnung enstehen. Dazu gehört auch, dass die Beziehungsform an diese Dynamik angepasst wird, indem beispielsweise das Konzept des Erstpartners aufgegeben wird. Offenheit sollte konsequenterweise auch diese Offenheit umfassen.
Wenn schon, denn schon!
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