Einer der wichtigsten Bestandteile von Treue in einer Beziehung ist für die meisten Paare die sexuelle Exklusivität. Mit dem Aufkommen polygamer Beziehungsformen musste das Verständnis von Treue allerdings differenzierter betrachtet werden, denn auch polygam lebende Paare möchten treu sein. Da ihre Auffassung von Treue um die sexuelle Exklusivität gemindert ist, wurde sie im Wesentlichen auf eine geistig emotionale Ebene übertragen.
Im Ergebnis meiner Recherchen zum Thema Treue finde ich die Definition am zutreffendsten, dass sich ein Paar in seiner Beziehung treu bleibt, wenn sich beide Partner an gemeinsam vereinbarte Verhaltensweisen bzw. Regeln halten.
Demgegenüber wird jemand untreu, wenn er ohne Zustimmung seines Partners gegen die vereinbarten Verhaltensweisen bzw. Regeln verstößt. In monogamen Beziehungen wird ein Partner untreu, wenn er einen sexuellen Kontakt außerhalb der Beziehung unterhält. In offenen Beziehungen wird derjenige Partner untreu, der die emotionale Ebene öffnet, also „Gefühle“ für einen Sexpartner entwickelt. Untreue in Beziehungen ist vielleicht gerade deshalb so verführerisch, weil sich ein Partner mehr Freiheiten erlaubt, als er dem anderen zugesteht.
In offenen Beziehungen werden – anders als in monogamen und polyamoren – die Bedürfnisse nach Arten voneinander getrennt und zwischen dem Erstpartner und den Sexpartnern aufgeteilt (partielle Befriedigung von Bedürfnissen). Durch diese partielle Aufteilung unterscheidet sich auch die Qualität der Treue, die einerseits zum Erstpartnern und andererseits zum Sexpartner besteht, voneinander. Erfahrungen von Paaren, die in offenen Beziehungen leben, zeigen, dass diese Trennung bzw. Aufteilung überwiegend misslingt. Offensichtlich strebt Sex ein einheitliches Erlebnis von Körper und Emotionen an. Daher wird sehr häufig die Absicht, mit einem Sexpartner nur ein körperliches Vergnügen erleben zu wollen und dem Erstpartner „emotional treu“ zu bleiben, von der Realität eingeholt. Eine offene Beziehung nimmt aus diesem Grunde nach einiger Zeit zunehmend den Charakter einer polyamoren Beziehung an, weil mit einigen Sexpartner auch eine (anfangs ungewollte) emotionale Verbindung eingegangen wird.
Dass Sex eine emotionale Verbindung schaffe, die eben nicht nur auf der körperlichen Ebene stattfinden würde, meint ebenfalls Gurudev Sri Sri Ravi Shankar im nachfolgenden Video.
Auch seine Ansicht spricht dafür, dass eine Trennung in „körperlich“ und „emotional“ nicht (dauerhaft) möglich sei, wie es die Partner in offenen Beziehungen vereinbaren, um sich gegenseitig „emotional treu“ zu sein. Bei polyamoren Beziehungen mag das anders sein, weil die Partner allen weiteren Partnern gegenüber emotional treu sein können.
Da das Erlebnis von Sex, wie zuvor dargelegt, nicht in jedem Fall auf ein körperliches Vergnügen reduziert werden kann – wofür auch die ausgeschütteten Bindungshormone sprechen – halte ich persönlich die Einteilung von Treue in einen „körperlichen“ und „emotionalen“ Anteil für schwierig. Denn sie schafft offenbar mehr Verwirrung als Klarheit. Diese Einteilung dürfte erst Ende der 1960er-Jahre während der sogenannten Sexuellen Revolution entstanden sein, um sexuellen Erlebnissen außerhalb einer Beziehung eine geringere – weil „nur körperliche“ – Bedeutung geben zu können. Im Ergebnis meiner Recherchen spricht sehr vieles dafür, dass unsere Sexualität von der emotionale Nähe zu einem Partner vielleicht zeitweise, aber nicht dauerhaft getrennt werden kann. Auch wenn es nicht unsere Absicht ist bzw. war.
Meine Recherchen haben auch ergeben, dass es deutlich herausfordernder ist, die „emotionale Treue“ als die „körperliche Treue“ zu definieren. Wann konkret eine „emotionale Untreue“ begangen wird, lässt sich sehr viel schwieriger als eine „körperliche Untreue“ bestimmen. Mir ist bisher keine universelle bzw. wenig interpretierbare Definition begegnet, wann genau ein Partner dem anderen emotional untreu wird bzw. emotional treu bleibt. Mit am häufigsten fällt der Begriff „Loyalität“ als ein wesentliches Attribut der emotionalen Treue, doch im Kontext offener Beziehungen wird auch Loyalität komplex. Denn auch Sexpartner haben Anspruch auf eine gewisse Loyalität, wodurch es schnell zu Loyalitätskonflikten kommen kann. Loyalität besitzt also kein Alleinstellungsmerkmal dem Erstpartner gegenüber. Das trifft auch für andere Attribute, die im Zusammenhang mit der „emotionalen Treue“ genannt werden – wie beispielsweise Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit – zu. Nur die Priorisierung dieser Attribute könnte zugunsten des Erstpartners ausfallen. Doch das zeigt letztendlich, dass auch dem Sexpartner gegenüber eine gewisse, wenn auch ggf. „abgeschwächte emotionale Treue“ bestehen muss, da ihm ja diese Attribute ebenfalls irgendwie zugutekommen.
Sinnbildlich für die Komplexität von Treue in offenen Beziehungen ist für mich der Video-Kongress „Treue 2,0“ des Youtube-Kanals Couple Care von Aino Simon, auf welchem offen lebende Partner über ihre Definition von Treue sprechen. Dabei lässt sich feststellen, dass diese „Treue 2.0“ tendeziell sehr individuell, d.h. weniger universell bzw. allgemein „be-greifbar“ als bei Beziehungen von monogamen oder monogamischen Charakter ausfällt. Speziell mit der Art von Treue, wie sie Christopher Gottwald und Vine Rupp in ihrer offenen / polyamoren Beziehung für sich definieren, beschäftige ich mich in diesem Artikel.
Auf die Herausforderungen der Treue in offenen Beziehungen geht Christian Hemschemeier in seinem Buch „Die neue Dimension der Liebe“ ein. Er schreibt: „Trotzdem haben offene Beziehungen in der Regel durchaus Limitierungen, nur halt andere. Typische Grenzen sind zum Beispiel, dass man sich nicht verlieben ‘darf‘, Ehrlichkeit hergestellt wird über andere Partner oder man sich nur wenige Male trifft mit einer neuen Person. Wenn man sich diese Grenzen anschaut, kann man schon sehen, wie leicht sie zu durchbrechen sind.“ [Qelle: Christian Hemschemeier – Die neue Dimension der Liebe; Arkana Verlag, 1. Auflage 2022, Seite 153].
In meinem Buch gehe ich sehr ausführlich auf die Treue in Beziehungen ein und beleuchte auch den Aspekt der „rationalen Treue“, worunter meiner Ansicht nach u.a. die Loyalität fällt.
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