Bei den Recherchen zu meinem Buch bin ich immer wieder der Ansicht begegnet, dass es in offenen Beziehungen ja „nur um Sex“ mit dem Sexpartner gehe. Dem Erstpartner soll hingegen ein „besonderer Status“ zugestanden werden, der sich im Wesentlichen dadurch zeige, dass ihm
- besondere Rechte, wie beispielsweise dem Veto- Recht sowie
- eine emotionale Treue und Loyalität
zugestanden werden. Diesen „besonderen Status“ soll der Sexpartner nicht erhalten. Die Kommunikation zwischen den Partnern sei immer offen, sodass jeder wisse, woran er ist. Dadurch erfahre jeder Partner eine Treue – wenngleich in unterschiedlicher Qualität.
Diese angestrebte Aufteilung der Bedürfnisse in offenen Beziehungen lässt sich auch gut mit der Maslow’schen Bedürfnispyramide verdeutlichen, welche die Bedürfnisse differenziert:
Sie teilt die Bedürfnisse in Ebenen ein und unterscheidet zwischen Defizit- und Wachstumsbedürfnissen. Grundsätzlich müssen erst die Defizitbedürfnisse erfüllt sein, bevor es die Wachstumsbedürfnisse sein können.
Zu den Defizitbedürfnissen gehören die elementaren Bedürfnisse , wie das Grund-, Sicherheits- und Soziale Bedürfnis. Dies lassen sie wiederum unterteilen in z.B.
- Essen, Schlafen und Sex (Grund- bzw. körperliche Bedürfnisse)
- Wohnen, Arbeiten und Einkommen (Sicherheitsbedürfnisse)
- Partner, Freunde und Liebe (Soziale Bedürfnisse)
gehören.
Zu den Wachstumsbedürfnissen gehören z.B.
- Anerkennung und Geltung
- Selbstverwirklichung
Viele Paare öffnen ihre Beziehung mit der Absicht, sich das Grundbedürfnis nach Sex auf der untersten Ebene der Pyramide (auch) vom Sexpartner erfüllen zu lassen. Es gehe eben „nur um Sex“. Die höheren noch zu den Defizitbedürfnissen gehörenden Ebenen der Pyramide sollen nur vom Erstpartner erfüllt werden können. Gemeinsame Regeln sollen dies so festschreiben.
Die Maslow‘sche Pyramide zeigt aber auch die Artverwandtschaft von Bedürfnissen. Insbesondere der Übergang innerhalb der Defizit- und Wachstumsbedürfnisse ist fließend. Maslow selbst hat bereits 1945 klargestellt, dass Bedürfnisse einer höheren Ebene bereits früher entstehen – also nicht erst dann, wenn alle Bedürfnisse der tieferen Eben erfüllt sind. Insofern erscheint es auch bei der Betrachtung der Maslow’schen Pyramide eine fast unmögliche Herausforderung zu sein, Bedürfnisse voneinander zu trennen. Beispielsweise soll ein Sexpartner das Bedürfnis „nur nach Sex“ auf einer körperlich „reptilienartigen“ Ebene erfüllen, während der Erstpartner die weiteren Bedürfnisse z.B. „Sex mit Liebe“ zusätzlich auf einer emotionalen Ebene erfüllen soll. Andere Forschungsergebnisse (insbesondere aus der evolutionären Psychologie) bestätigen, dass diese gewollte Trennung der Bedürfnisse insbesondere Frauen deutlich überwiegend nicht gelingt und sie früher oder später „mehr als nur Sex“ vom Sexpartner erfüllt bekommen wollen – also auch die Bedürfnisse der höheren Ebenen der Pyramide. Denn auch Liebe gehört wie Sex zu den Defizitbedürfnissen, weshalb beide Bedürfnisse so nahe beisammen sind, dass die Trennung von Sex und Liebe – auch nach den Ergebnissen von Maslow – auf Dauer eine kaum einzuhaltende Regel zu sein scheint. Angesehen davon, dass Sex mit großer Intimität einhergeht.
Wer wirklich und konsequent offen sein möchte, kann sich im Ergebnis meiner Recherchen der Polyamorie nicht dauerhaft verschließen, bei der jeder Partner alle Arten von Bedürfnissen – also auch Sex und Liebe – erfüllt.
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