Mit der Ansicht, dass Monogamie nicht unserer menschlichen Biologie entspreche sondern geradezu „menschenfeindlich“ sei, hat Charlotte Roche für einiges Aufsehen gesorgt. Sie meint, dass die in unserer Gesellschaft vorherrschende monogame Beziehungsform noch immer christlich moralisch geprägt sei.
Wer die Recherchen zu meinem Buch liest und diesen Blog verfolgt, wird diese Ansicht nicht widerspruchsfrei stehen lassen können. Zwar sind wir Menschen ganz offensichtlich nicht monogam im Sinne von „ein Partner ein Leben lang“ angelegt, doch anstelle parallele sexuelle Beziehungen zu pflegen, wird deutlich überwiegend das Konzept des „Lebensabschnittspartners“ verfolgt. Bevorzugen wir dieses seriell monogame Konzept nur, weil wir noch immer in christlich moralischen Vorstellungen gefangen sind, wie Charlotte Roche meint?
Ihrer Auffassung könnte Folgendes entgegengehalten werden:
- Beim Sex schüttet unser Körper die Bindungshormone Oxytocin und Vasopression aus, die uns – zumindest temporär – an einen Sexpartner emotional binden sollen. Daher vertritt Helen Fisher die Auffassung, dass es keinen Gelegenheitssex (Casual Sex) gebe.
- Sex war seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte mit einer möglichen Schwangerschaft verbunden. Da die Frauen die Strapazen einer Schwangerschaft tragen und ihnen der größte Elternaufwand zufällt, binden sie sich tendenziell schneller emotional an den männlichen Sexpartner, damit er die Vaterschaft eines gezeugten Kindes anerkennt und dadurch bereit ist, sich am Elternaufwand zu beteiligen.
- Aus evolutionärer Sicht ist die Zeit, in der die Empfängnisverhütung die Sexualität von einer Schwangerschaft zuverlässig entkoppelt hat, viel zu kurz, um eine genetische Prägung im Sexualverhalten verursacht haben zu können. Vielmehr wird sich über die letzten Jahrtausende in uns ein Sexualverhalten genetisch eingeprägte haben, das tendenziell eine längere emotionale Bindung an einen Sexpartner vorsieht.
- Unsere Eifersucht ist eben nicht nur ein soziokulturelles, sondern anteilig auch ein evolutionär geprägtes Gefühl. Dieser evolutionäre Anteil steht der Auffassung entgegen, dass uns nur soziokulturelle Prägungen davon abhalten, parallele sexuelle Beziehungen zu unterhalten.
- Auch Gesellschaften, die polygame Beziehungen anerkennen, sind kulturell und „religiös moralisch“ überformt. Selbst bei sogenannten „Naturvölkern“ dienen polygame Phasen in erster Linie dem Erhalt der Gruppe und nicht der individuellen und freien sexuellen Entfaltung, wie es die sexuelle Revolution ab den 1960er Jahren anstrebte.
- Sogar bei den Mosuo, deren Gesellschaft so gut wie keinen moralischen Zwängen unterliegt, findet Sex offenbar entweder als Mingle oder innerhalb einer monogamen Beziehung statt. Eine offene Beziehung mit einem „Erstpartner“ wird von ihnen und anderen Naturvölkern nicht geführt.
- Viele Paare, die Erfahrungen in einer offene Beziehungsform gesammelt haben, verbleiben nicht in dieser, sondern wechseln (wieder) in eine monogam geprägte, „monogamische“ Beziehungsform. Und bei dieser Entscheidung spielen „christlich moralische“ Gründe keine Rolle. Immer wieder berichten Paare, dass sie ihrer Erfahrung nach eine Tiefe in einer Beziehung nur erreichen können, wenn sie sich voll und ganz auf einen Partner einlassen.
- In größeren Gesellschaften (ab ca. 300 Mitgliedern) beugen Beziehungen von monogamen Charakter der Verbreitung von (Geschlechts-) Krankheiten vor.
Von Esther Perel ist die Aussage bekannt, dass wir heute in unserer westlichen Kultur im Laufe unseres Lebens 2 bis 3 feste Beziehungen eingehen würden – und sich einige entscheiden würden, diese Beziehungen mit demselben Partner zu führen.
Christian Hemschemeierführt aus, dass sich im Tierreich monogame Beziehungen lohnen würden, wenn das Elternpaar einen hohen Elternaufwand zu bewältigen hat. Daher sei es auch bei uns Menschen naheliegend, dass wir tendenziell monogam leben – jedoch auch zu gelegentlichen Seitensprüngen neigen. In seinem Buch „Feuer und Flamme“ schreibt er: „Diese Studie bestätigt eher, was wir schon am Anfang des Buches gesagt haben: Der Mensch ist grundsätzlich seriell monogam, pflegt aber in Anteilen auch andere Beziehungsformen. Selbst in Gesellschaften, die Polygamie erlauben, sind es im Schnitt unter 5 Prozent der Männer, die diese Beziehungsform auch wirklich praktizieren.“ [Quelle: Christian Hemschemeier – Feuer und Flamme, arkana Verlag, 1. Auflage 2023, Seite 59]
Stefanie Stahl vertritt im nachfolgenden Podcast ab Minute 15:38 die gleiche Ansicht wie Christian Hemschemeier.
Letztendlich bleibt es eine Frage von Lebensphasen und unserer Persönlichkeit, ob wir eher in einer monogamen oder polygamen Beziehung unsere Erfüllung finden. Tendenziell werden diejenigen von uns, die über ein stark ausgeprägtes Verlangen nach Autonomie verfügen, die Möglichkeit der Öffnung ihrer Beziehung mehr in Erwägung ziehen. Dass Monogamie aber „menschenfeindlich“ sei, wie es Charlotte Roche meint, kann mit Bezug auf die zuvor aufgezählten Argumente als unzutreffend angesehen werden. Und es darf auch bezweifelt werden, dass es ihr gelingt ihr Herz in jedem Fall nur „kurzzeitig“ einem anderen Mann neben ihrem Ehemann Martin zu schenken, wie sie im Video erzählt (zur beabsichtigten ‚Kurzliebelei‘ äußert sich Kiria Vandekamp in diesem verlinkten Video ab Minute 2:17 sehr klar). Alleine die Bindungshormone verfolgen ein längerfristiges Verschenken des Herzens.
Jede Beziehungsform hat ihre Vor- und Nachteile. Wenn wir eine offene Beziehungform wählen, dann werden Dynamiken eintreten, die eben deutlich schwieriger als in monogam geprägten zu handhaben sind. Wir können uns viel vornehmen – doch unsere biologisch evolutionären Prägungen werden im Hintergrund unseren Absichten oft genug entgegenstehen.
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