Mir ist kein spiritueller Meister bekannt, der nicht in irgendeiner Weise empfiehlt, im „Hier und Jetzt“ zu leben. Von Laotse ist beispielsweise die Aussage bekannt: „Wenn Du deprimiert bist, lebst Du in der Vergangenheit. Wenn Du besorgt bist, lebst Du in der Zukunft. Wenn Du in Frieden bist, lebst Du in der Gegenwart.“ Seiner Auffassung nach erfahren wir Frieden, wenn wir „gegenwärtig“ sind.
Aus meiner Sicht enthält diese Auffassung viel Wahrheit. Ich habe mir allerdings die Frage gestellt, ob dieses leben im „Hier und Jetzt“ auch so gemeint sein könnte, dass spontan Gefühlen und Impulsen nachgegangen werden sollte. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn wir uns völlig den gerade bestehenden Bedürfnissen hingeben und unsere Gedanken quasi „ausblenden“.
Gedanken können unserem Verstand zugeordnet werden. Im nachstehenden Video meint Sadhguru, dass die Evolution unseren Verstand mit den von ihm erzeugten Gedanken nicht ohne Grund geschaffen habe. Es liegt bei uns, ob wir ihn für oder gegen uns einsetzen würden. Er plädiert dafür, dass wir uns nicht mit unserem Verstand und seinen Gedanken identifizieren sollten.
Auch meiner Erfahrung nach muss uns unser Verstand und seine Gedanken nicht davon abhalten, im „Hier und Jetzt“ leben zu können. Denn wenn wir die Gedanken unseres Verstandes bewusst wahrnehmen, können wir sie „da sein lassen“ ohne sie zu bewerten und sie dadurch als Teil des gegenwärtigen Augenblicks ansehen (was sie ja auch sind). So werden wir Meister – und nicht Sklaven – unserer Gedanken! Das Wahrnehmen unserer Gedanken ist Teil einer ganzheitlichen Betrachtung unseres Seins.
Unsere Gedanken können uns vor den Folgen unseres Handels, worunter auch Untreue fallen kann, bewahren. Denn sie rufen beispielsweise die Regeln in Erinnerung, die wir mit unserem Partner vereinbart haben und die nicht selten einem Augenblick im „Hier und jetzt“ entgegen stehen. Daher sollten die Partner einer Beziehung, die beide im „Hier und Jetzt“ leben wollen, hinterfragen, ob sie nicht besser auf jegliche Regel verzichten. Und was ihre Beziehung dann noch ausmacht, wenn es so gut wie keine Regeln und Exklusivität mehr gibt. Warum überhaupt eine Beziehung führen, wenn so gut wie keine freiwilligen Selbstverpflichtungen dem Partner gegenüber bestehen, weil das Paar nicht auf die „Freiheit“ verzichten möchte, den Impulsen im „Hier und Jetzt“ nachzugehen? Diese Frage wird sich in offenen Beziehungen häufiger stellen.
Daher scheint sich das Leben im „Hier und Jetzt“ und das Führen einer Beziehungen in Einigem zu widersprechen. Ich persönlich finde es in Beziehungen am wichtigsten, aufrichtig den gegenwärtigen Moment zu erleben. Das beinhaltet, dass wir unsere Impulse, die häufig von unserem alten Reptiliengehirn kommen und mit Gegenwärtigkeit nichts zu tun haben, bewusst wahrnehmen und sie in Einklang mit unserer freiwilligen Selbstverpflichtung dem Partner gegenüber bringen. So können wir unser gegenwärtiges „Sein“ und unseren „Verstand“ zusammenbringen.
Die Meditation ist beispielsweise ein wirksames Mittel, seine Gedanken bewusst wahrzunehmen. Wenn uns das gelingt, dann kann unser Verstand mit seinen Gedanken ein wichtiger Verbündeten sein, der uns dabei hilft, unsere Gefühle und Impulse besser einzuordnen. So können wir gegenwärtig sein und trotzdem die Folgen bzw. Konsequenzen unseres Handelns abschätzen.
Ich finde einen Satz von Melanie Mittermaier sehr passend, den sie sinngemäß so formuliert: „Wenn wir unseren Gefühlen (Impulsen) folgen, sollten wir nicht vergessen, unser Großhirn mitzunehmen.“ Dem möchte ich nichts hinzufügen.
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