An Frauen und Männer werden unterschiedliche Erwartungen gelegt. Beispielsweise erhalten Männer Anerkennung und können ihr Ansehen untereinander steigern, wenn sie mit vielen Frauen Sex haben bzw. hatten. Umgekehrt ernten Frauen oft Ablehnung und Unverständnis, wenn sie mit vielen Männern Sex haben oder hatten. Männer sollen sich ihre „Hörner“ abstoßen, doch die Frauen, die ihnen das ermöglichen, werden häufig herabgewürdigt. Hinzu kommt, dass Männer für eine langfristige Beziehung Frauen tendenziell ablehnen, die leichtfertig Sex anbietet.
Die Anzahl von unterschiedlichen Sexpartnern wird als „Body Count“ bezeichnet. Dieser steht sinnbildlich für die bis heute anhaltende Doppelmoral: Denn während ein hoher Body Count Männern eher Ansehen verschafft, bewirkt dieser bei Frauen – zumindest aus der Perspektive von Männern – genau das Gegenteil.
Ein wesentlicher, wahrscheinlich evolutionär geprägter Grund für diese Doppelmoral dürfte im unterschiedlichen Zugang zur Ressource Sex liegen. Denn der Body Count eines Mannes besagt, dass er auf Frauen überdurchschnittlich attraktiv wirkt, weil er von ihnen sehr viel häufiger als andere Männer selektiert wird. Demgegenüber kann auch eine eher durchschnittlich attraktive Frau quasi jederzeit einen Mann für gemeinsamen Sex gewinnen – solange sie sich nicht ausschließlich auf sehr attraktive Männer fokussiert. Daher wird eine durchschnittlich attraktive Frau, die Wert auf einen eigenen hohen Body Count legt, kaum Schwierigkeiten bekommen, ihn zu erreichen – ein durchschnittlich attraktiver Mann hingegen schon (Sexdienstleistungen ausgenommen). Aus vorgenanntem Grunde dürfte ein hoher Body Count das Ansehen eines Mannes mehr als das einer Frau steigern.
Für diese Doppelmoral scheint auch ein weiterer evolutionär geprägter Grund zu sprechen. Denn eine Frau, die vielen Männern parallel unverbindlichen Sex anbietet, könnte im Falle einer Schwangerschaft den Vater nicht sicher benennen. Erst eine zuverlässige Empfängnisverhütung konnte das ändern, nicht jedoch das damit verbundene, evolutionär geprägte Empfinden. Daher scheint eine promiskuitive Lebensweise von Frauen kulturübergreifend für Männer tendenziell unattraktiv zu sein, die eine Familie gründen wollen. Aber auch Frauen, die eine Familie gründen wollen, sind von einer promiskuitiven Lebensweise des Mannes wenig begeistert, weil sie sich im Wesentlichen um seine Zuverlässigkeit und Unterstützung sorgen.
Unser ambivalentes Verhalten, unsere Doppelmoral scheint also von unserer Absicht abzuhängen: Wenn es uns um unverbindlichen Sex geht, spielt der Body Count eine untergeordnete Rolle. Wenn wir aber eine langfristige, verbindliche Beziehung eingehen wollen, achten wir tendenziell auch auf den Body Count unseres potentiellen Partners. Denn tendenziell gehen wir (zu Recht?!) davon aus, dass bei einem potentiellen Partner, der viele parallele und wechselnde Sexpartner hatte, die Schwelle für Sex mit anderen niedrig hängt.
Ich persönlich halte es andererseits aber auch für unvorteilhaft, ohne oder nur mit einem sehr niedrigen „Body Count“, also geringer sexueller Erfahrung eine Langzeitbeziehung einzugehen. Weil wir heute mehr als jemals zuvor unseren Partner frei wählen und ihn immer unkomplizierter wieder verlassen können, hängt unsere Bereitschaft, uns an einen Partner langfristig zu binden, stark von unseren Erfahrungen ab, die wir mit anderen Partnern zuvor gesammelt haben. Ohne diese Erfahrungen bleibt ein Zweifel bestehen, ob es vielleicht doch noch einen „besseren Partner“ für uns geben könnte.
Emanuel Erk weist in dem folgenden Video darauf hin, dass uns die gesammelten Erfahrungen irgendwann befähigen sollten, eine sichere und verbindliche Beziehung eingehen zu wollen. Vielleicht kann auch die gelebte Besuchsehe der Mosuo als Vorbild dienen.
Fortwährendes „Ausprobieren“ mit wechselnden Sexpartnern würde allerdings seiner Ansicht nach darauf hinweisen, dass andere unbewusste Muster bestehen und aufgearbeitet werden sollten. In meinem Buch gehe ich noch genauer auf diese unterschiedlichen Erwartungshaltungen ein.
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