Bei meinen Recherchen zum Thema Treue ist mir bei Paaren, die offen oder polyamor leben, eine Ansicht besonders häufig aufgefallen: Treue bedeutet für sie in erster Linie Selbsttreue. Für sie ist es am wichtigsten, im Einklang mit den eigenen Bedürfnissen zu leben und diese auch ehrlich mit dem Partner zu kommunizieren. In diesem Zusammenhang ist mir das nachstehende Video von Vine Rupp und Christopher Gottwald aufgefallen, in welchem beide zwischen Minute 7:08 und 10:45 sowie ab 47:29 von der Selbsttreue sprechen.
Die Selbsttreue weicht von anderen Definition von Treue ab. Denn in aller Regel steht die Treue zum Partner im Mittelpunkt, wir waren ihm entweder treu oder untreu. Bei der traditionell monogamen Beziehungsform umfasste die Treue die sexuelle Exklusivität, bei den polygamen Beziehungsformen wurde die Treue von der körperlichen auf die geistig emotionale Ebene übertragen. Unabhängig von allen Beziehungsformen ist das Einverständnis des Partners unserem Verhalten ihm und anderen gegenüber ein wesentlicher Aspekt von Treue.
Die Selbsttreue kann so aufgefasst werden, dass sie die Prioritäten von Treue verlagert. Im Mittelpunkt scheint nunmehr die Treue zu einem selbst zu stehen, welche die Treue zum Partner zwar beinhalten kann – es aber nicht muss. Denn ein Selbsttreuer könnte eine Schwelle überschreiten, die er selbst noch für treu ansieht, jedoch nicht mehr sein Partner. Daher bleibt meiner Ansicht nach beim Begriff „Selbsttreue“ der Eindruck bestehen, dass ein Selbsttreuer im Zweifelsfall eher sich selbst als dem Partner treu bleibt und seine Bedürfnisse eine höhere Priorität als die des Partners einnehmen. Denn Selbsttreue wären sich ja ggf. nicht mehr treu, wenn sie einen Kompromiss eingehen oder dem Partner einen größeren Umfang an Exklusivität einräumen müssten. Beispielweise könnte ein Veto seines Partners den Selbsttreuen in ein Dilemma führen, weil der Selbsttreue dem Veto nur dann nachkommen kann, wenn er sein eigenes Bedürfnis nicht auslebt, wodurch er sich nicht mehr selbst treu wäre.
Leider geht aus dem vorgenannten Video nicht hervor, wie Vine und Christopher mit unterschiedlichen Bedürfnissen oder Konflikten umgehen. Denn da sich Vine einen selbsttreuen Partner wünscht, erfüllt Christopher ihr dieses Bedürfnis ja gerade dann, wenn er sich seine eigenen Bedürfnisse erfüllt. Und umgekehrt dürfte auch Christopher nichts dagegen haben, wenn sich Vine selbsttreu verhält, indem sie sich ihre eigenen Bedürfnisse erfüllt. Folglich können zwei Selbsttreue, die gleiches dem Partner zugestehen, sich gegenseitig praktisch gar nicht untreu werden. Denn sie verhalten sich ja immer so, wie es der andere Partner schätzt. Das Thema gegenseitige Treue dürfte unter Selbsttreuen keine Rolle spielen, weshalb bei ihnen ein Veto- Recht hinfällig sein müsste.
Da eine Beziehung meiner Ansicht nach ohne Kompromisse und ohne ein wenigstens ansatzweise vorhandenes Konzept nicht auskommen wird, bevorzuge ich die Bezeichnung „Regeltreue“ oder auch „Beziehungstreue“, weil sie außer Zweifel lässt, dass gemeinsam vereinbarte Regeln im Zweifel über den eigenen Wünschen stehen. Das beinhaltet, dass eigene Bedürfnisse auch mal hintangestellt werden, weil die Beziehung zum Partner Vorrang hat. Beziehungstreue beinhaltet eine freiwillige Selbstverpflichtung. Das kommt der Stabilität der Beziehung zugute, sodass sich beide Partner in ihrer Beziehung zuhause fühlen können.
Ohne weiteren Erläuterungen könnte „Selbsttreue“ als eine egozentrische Einstellung aufgefasst werden, die wenig Platz für eine freiwillige Selbstverpflichtung, zu der auch Kompromisse gehören, übrig lässt.
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