In der heutigen Zeit werden bestehende Strukturen und Konzepte immer häufiger hinterfragt und als einengend empfunden. Die Struktur unserer Beziehungen ist davon eingeschlossen. Denn heute gehen wir nicht nur monogame Beziehungen, sondern vermehrt auch offene und polyamore Beziehungen ein oder kommen im Rahmen einer „Freundschaft Plus“ oder „Situationship“ zusammen.
Strukturen und damit letztendlich auch ein Konzept zu erzeugen, ist eine Eigenschaft unseres menschlichen Verstandes, der von unseren Gedanken geprägt wird. Wir fühlen uns sicher und geborgen, wenn wir unser Leben entlang einer strukturierten Bahn führen können, die auf ihren Seiten Grenzen aufweist. Die Grenzen dieser Bahn sollten allerdings immer wieder hinterfragt werden, sodass sich diese entweder erweitern, festigen oder entfallen können. Dieses Hinterfragen ist für mich die Offenheit, die uns entwickelt und die wir deshalb nicht verlieren sollten.
Vor Kurzem erfuhr ich von einer Ansicht zum Thema Beziehungen, die eine „strukturlose Sichtweise“ beinhaltet. Dieser Ansicht zufolge seien es im Wesentlichen die – gerade angstvollen – Gedanken unseres Verstandes, die uns in Strukturen und Konzepte führen würden. Beziehungen bräuchten dieser Ansicht nach keine Struktur, sondern sollten im Hier und Jetzt gelebt werden. Einer Beziehung eine Bezeichnung zu geben, sei bereits der Versuch unseres Verstandes, diese in eine Struktur zu fassen bzw. sie in ein Konzept zu gießen. Die Beziehung einer Beziehungsform zuordnen zu wollen, sei bereits eine Art „Eingriff“ unseres Verstandes in unsere Bedürfnisse.
Die vorstehenden Ausführungen kann ich für die Situation gut nachvollziehen, dass sich Ungebundene wie bespielsweise Singles regelmäßig mit wechselnden Sexpartner treffen – wobei ich konsequenterweise gar nicht den Begriff „Single“ benutzen dürfte, weil ich schon alleine damit der Situation eine vom Verstand vorgegebene Struktur gebe. Vermutlich würde „Situationship“ die Situation am zutreffendsten beschreiben, doch auch damit würde ich bereits eine Struktur zuweisen. Können Sichtweisen überhaupt ausgetauscht werden, ohne sie wenigstens ansatzweise in eine Struktur zu bringen?
Schwieriger nachzuvollziehen ist für mich allerdings, warum manche von uns strukturgebende Gedanken (teilweise) abzulehnen scheinen, obwohl unsere Umgebung voll von Strukturen ist: Pflanzen, Tiere, Jahreszeiten, unsere Sprache (!) (Grammatik) usw. besitzen alle eine Struktur – selbst das Universum. Die Entdeckung der Fraktale zeigt nur zu deutlich, dass alles (!) einer Struktur folgt. Und letztendlich folgen auch Beziehungen einer Struktur, selbst wenn wir sie nicht wahrnehmen können oder wollen. Beziehungen, die zukunftsgerichtet sein sollen, folgen zumindest im Ansatz immer einer Struktur bzw. einem Konzept. Zu einer ganzheitlichen Betrachtung unseres Lebens gehören auch unsere Gedanken mit ihren Strukturen. Denn Gedanken mit ihren Strukturen gehören genauso zu unserer Evolution wie Sexualität. Nur einen Teil unsere Evolution zu begrüßen und einen anderen nicht, wäre daher unvollkommen.
Der Wunsch, sich von Strukturen bzw. Konzepten lösen zu wollen, ist mir oft zusammen mit dem Wunsch begegnet, die Grenzen unserer physischen und psychischen Welt überwinden bzw. transzendieren zu wollen. Doch wenn wir das anstreben, warum ist dann Sex noch von Bedeutung, der sich ja innerhalb dieser Grenzen abspielen muss?
Angstvolle Gedanken mindern unsere Lebensqualität. Daher halte ich es für eine ganz zentrale Aufgabe unseres Lebens, angstvolle Gedanken zu identifizieren und uns von ihnen zu lösen. Das schließt aber nicht aus, dass unsere Gedanken eine Struktur haben dürfen bzw. einer Struktur folgen sollten. Ich halte es mit Sadhguru, der unseren Verstand als Teil unserer Evolution begrüßt und gutheißt. Dazu gehören auch seine Gedanken, die unser Verstand erzeugt. Allerdings weißt er darauf hin, dass sich Gedanken auch gegen uns richten können. Genau mit diesen Gedanken sollten wir uns nicht identifizieren, weil wir nicht unsere Gedanken „sind“.
Im Übrigen verdanken wir gerade dem strukturierten Denken unseres Verstandes viele Errungenschaften in unserem Leben, die auch gerne von denjenigen in Anspruch genommen werden, die den Wert unseres Verstandes mit seinen Gedanken eher gering schätzen . Eine seiner Errungenschaften ist beispielsweise die Entwicklung der Empfängnisverhütung, sodass wir heute „unstrukturierten“ bzw. parallelen Beziehungen nachgehen können, ohne die Folgen einer Schwangerschaft befürchten zu müssen. Daher halte ich es für widersprüchlich, wenn gerade diejenigen von uns, die auch wechselnden und parallelen sexuellen Begegnungen nachgehen, den Verstand als Schöpfer dieser Möglichkeit jedoch als „begrenzend“ erleben.
Meiner Ansicht nach gehört es zu unserem Lebensziel, eine angstfreie und integre Struktur zu entwickeln, in der auch unser Verstand mitsamt seinen Gedanken einen wichtigen Platz hat. Denn unser Verstand mit seinen Gedanken ist genauso wie unser sexuelles Verlangen Teil unserer Evolution, weshalb ich es für inkonsequent halte, sich nur den Teil unserer Evolution herauszupicken, der uns gerade „passt“. Die vielleicht wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung einer integren Struktur scheint mir, dass wir uns unserer Gedanken bewusst werden – wie es beispielsweise in der Meditation erfahren werden kann. Dann können wir auch unseren Beziehungen eine angstfreie Struktur verleihen. Denn so ganz ohne Struktur könnte ein Paar Fragen zum Miteinander, zum Commitment, zur Treue und zum Umgang mit Eifersucht nicht beantworten. Und sind wir ohne irgendeine Struktur wirklich frei oder würden wir letztendlich nicht ziellos durchs Leben gehen?
Schreibe einen Kommentar