Treue wird mit vielen Attributen in Verbindung gebracht, auf die ich in meinem Buch genauer eingehe. Neben Loyalität und Verlässlichkeit ist ein wichtiges Attribut für Treue die Aufrichtigkeit.
In allen Beziehungsformen bleiben wir treu, wenn wir uns an die vereinbarten Regeln halten und alles aufrichtig kommunizieren. Bei monogamen Beziehungen bleiben wir treu, wenn wir sexuell exklusiv bleiben. Bei offenen Beziehungen bleiben wir gegenüber unserem Erstpartner treu, wenn wir den sexuellen Kontakt außerhalb der Beziehung so einschränken, wie wir es mit ihm vereinbart haben. Gegenüber dem Sexpartner verhalten wir uns ebenfalls treu, wenn wir ihm die Einschränkungen ehrlich mitteilen, die er aufgrund der Regeln mit dem Erstpartner hinnehmen muss. Diese Einschränkung gestatten es grundsätzlich nicht, dass mit einem Sexpartner eine gleichwertige Beziehung wie mit dem Erstpartner geführt wird. Eine wesentliche Einschränkung ist, dass die Affäre mit einem Sexpartner grundsätzlich endlich ist, also nach einer gewissen Zeit – die auch mit dem Erstpartner verabredet sein kann – beendet wird.
Solange wir die Regeln sowohl dem Erst- als auch mit dem Sexpartner gegenüber einhalten, bleiben wir auch beiden Partnern treu – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Der Erstpartner bekommt Privilegien eingeräumt und der Sexpartner muss sich in den Freiraum einpassen, der übrigbleibt, Durch die Privilegien bekommt der Erstpartner quasi eine Treue erster Klasse, während der Sexpartner die Treue zweiter Klasse erhält. Ich habe mir die Frage gestellt, warum das der scheinbar überwiegende Teil von Paaren, die in offenen Beziehungen leben, so handhabt. Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass viele in offenen Beziehungen lebende Paare damit der Tendenz entgegenwirken wollen, in eine polyamore Beziehung zu geraten. Im Ergebnis meiner Recherchen wird eine offene Beziehung umso wahrscheinlicher einen polyamoren Charakter annehmen, desto länger sie besteht, also die Endlichkeit der Affäre mit einem Sexpartner hinausgezögert oder nicht mehr eingehalten wird. Aus vorgenannten Gründen wird eine „Zweiklassentreue“ auf Dauer schwer aufrecht gehalten werden können.
Wir können uns vornehmen, unserem Erstpartner Privilegien in Form einer „verlässlicheren Treue“ einzuräumen. Doch gerade bei den Dynamiken offener Beziehungen wird es schwerer als bei anderen Beziehungsformen fallen, diese „Treue erster Klasse“ aufrichtig einzuhalten. Daher wird die offene Beziehung von vielen Therapeuten und Coaches auch als Übergang zur polyamoren Beziehung angesehen. Zur Treue gehört es auch, gegenüber dem Erstpartner ehrlich zu kommunizieren, wenn wir ihm nicht mehr eine Treue erster Klasse (alleine) einräumen möchten. Das wird tendenziell der Fall sein, wenn wir uns in einen Sexpartner verliebt haben. Ihm das mitzuteilen ist treu, weil wir aufrichtig sind.
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